Die Platte in mir

Den einen Typus von Platte gibt es nicht. Es gibt Querplatten, Einheitsplatten und Mischmasch-Platten. Für Schulen war beispielsweise der Typ Erfurt TS 7 ein Bestseller unter den Plattenbauten. Der Grundriss ähnelte einem H. Lange Flure, in denen sich ein Klassenraum an den anderen reiht, irgendwie clever.

Für die einen ist der Plattenbau das Wahrzeichen des Ostens schlechthin, wieder andere sehen darin den gescheiterten Sozialismus. Nicht wenige betrachten ihre Bewohner als eine aufgegebene Unterschicht, die regelmäßig das RTL 2 Programm füttert.

Ich stehe vor einer Platte in Hohenschönhausen. Sehe weder einen bestimmten Bautyp, noch eine realsoziale Wirklichkeit. Ich sehe mein erstes Zuhause. Da ganz oben war unsere Wabe, unser 50 qm Wohnglück, Mitte der 80er Jahre. Kleine Zimmer, papierdünne Wände. Früher habe ich mich dafür geschämt. Und wenn ich ehrlich bin, tue ich das heute auch noch ein bisschen.

„Jetzt musst du nur laut Mandy rufen und eine von den übergeschminkten, in Leoparden-Leggings laufenden Mädchen dreht sich zu uns um“, sage ich zu meinem Freund, als wir die Straße überqueren. Und im selben Moment frage ich mich, warum mir meine Eltern eigentlich einen biblischen Namen verpasst haben. O Mann, denke ich, ich hätte tatsächlich auch Mandy heißen können. Oder Chantal. Hätten meine Eltern damals nicht vom Balkon aus sehnsuchtsvoll in den goldenen Westen geblickt, würde ich vielleicht immer noch hier wohnen. Zusammen mit Ronny. Wer weiß.

Wir laufen in das Linden Center nebenan. Viele Kinder springen aufgeregt umher, vor allem kleine Mädchen in blauen Kostümen. Heute ist Prinzessinnen-Tag im Einkaufszentrum. Auf einer Bühne winkt Elsa fröhlich in die Menge, während eine Frau mit Dauerwelle und herabhängenden Mundwinkeln am Mikrophon verspricht, dass Elsa jetzt gehen muss, sie aber in einer halben Stunde wieder kommt. Versprochen. Versprochen. Wirklich Versprochen.

Nach einer kleinen Runde verlassen wir wieder das Einkaufszentrum und laufen zur nächsten Tramhaltestelle. Ich blicke zurück auf mein erstes Zuhause, erinnere die Enge und weiß, der Neid auf Menschen mit hohen Decken entsteht genau hier. Mein Blick senkt sich zu meinem Freund, der mittlerweile mit seinem Handy beschäftigt ist. Unsere Wurzeln könnten unterschiedlicher nicht sein. Und auch wenn meine Eltern versucht haben, die Wurzeln mit denen ich geboren wurde abzuschneiden, fühle ich die Zugehörigkeit zu diesem ersten Zuhause.

Mit der M5 fahren wir weiter zum Stasi-Gefängnis Alt-Hohenschönhausen. Auch so ein Ort der Enge, allerdings gibt es hier nicht mal Fenster. Wir stehen im Hof und lauschen gebannt dem ehemaligen Häftling Leuschner. Das Wetter, es passt nicht zu seiner Erzählung, es passt auch nicht zu der grauen Mauer und ihrem zornigen Stacheldraht. Der Himmel ist blau und wolkenlos, die Sonne strahlt warm auf unsere Gesichter. „Wir sind alle gleich“, sagt Leuschner immer wieder, betont, wie sehr ihn die Zeit hier geprägt hat. Wäre seine Flucht damals in den Westen geglückt, wäre er vermutlich heute ein ganz anderer. Befreien muss man sich von seiner Vergangenheit. Und manchmal, indem man von ihr erzählt.

Wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen. Mein Freund zieht aus seiner Jacketasche Konzertkarten, die er vorhin heimlich im Linden Center gekauft hatte, als ich für meinen Eisbecher in der Schlange stand. Wir fahren nach Hause. Eine Frage, die mich beschäftigt: Wenn ich immer wieder hierher zurückkehre, kann ich dann überhaupt woanders zu Hause sein? Der Himmel dunkelt allmählich, unzählige Fenster sind hell erleuchtet. Eigentlich ganz schön.

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